Brustschmerz, ST-Hebung und erhöhte Troponinwerte: Ein Fall für das Katheterlabor?

Dieser Beitrag wurde von Sam Ghali (@EM_RESUS) verfasst und geringfügig von mir bearbeitet.

Eine 52-jährige Frau wird in der Notaufnahme vorstellig und leidet seit 2 Stunden an Brustschmerz, Herzrasen und Atemnot. Sie weist leicht erhöhten Blutdruck auf, ihre Vitalzeichen sind jedoch normal. Hier ihr 12-Kanal-EKG:

 0-Fig-ECG-SAVE
Es liegt ein Sinusrhythmus von ungefähr 70 bpm vor. In den inferioren Ableitungen (II, III, AVF) sind Q-Zacken mit ST-Hebungen zu erkennen. Diese Hebungen erfüllen die Kriterien eines ST-Hebungsinfarktes (≥1 mm in 2 zusammenhängenden Ableitungen). Allerdings kann ein zurückliegender Myokardinfarkt mit Morphologie eines Aneurysma (persistierende ST-Hebung) exakt das gleiche Bild liefern. Bei genauerem Hinschauen lässt sich eine deutliche ST-Senkung in den lateralen Extremitätenableitungen I und AVL erkennen. Zwar kann es sich hier um die zum akuten/subakuten inferioren STEMI reziproke Veränderung handeln, das Problem ist allerdings, dass sich LV-Aneurysmata eben auch mit dieser reziproken Veränderung manifestieren können. [Erschwerend kommt hier hinzu, dass diese Patientin LVH und Verzerrungsmuster (R-Zacke in AVL > 11 mm) aufweist, die ebenso für diese Veränderungen verantwortlich sein können]

 

Liegt hier ein akuter/subakuter ST-Hebungsinfarkt oder ein zurückliegender Myokardinfarkt mit persistierender ST-Hebung/„Aneurysma-Morphologie“ vor?

Welche Indizien helfen uns bei der Unterscheidung der beiden in diesem Szenario?

  1. Ischämiebedingte hyperakute T-Wellen (Hohe, runde, symmetrische versus „spitz“ ausschlagende T-Wellen bei Hyperkaliämie), sind oft ein Hinweis auf Ischämie. Beim STEMI zeigen sie sich im Allgemeinen vertikal und hoch im Verhältnis zum QRS-Komplex. Die vorliegenden T-Wellen sind nicht vertikal oder besonders hoch. Dies spricht daher gegen einen akuten ST-Hebungsinfarkt. Man muss allerdings bedenken, dass beim subakuten ST-Hebungsinfarkt (von 6 Stunden Dauer) die hyperakuten T-Wellen an Höhe abnehmen und bei Fortschreiten des Infarktes schließlich negativ ausschlagen (was auf einen weniger vitalen Herzmuskel hinweist), ähnlich, wie es hier zu sehen ist.
  1. In den inferioren Ableitungen sind Qr-Wellen mit minimalem Ausschlag der R-Zacken zu sehen. Bei akutem/subakutem ST-Hebungsinfarkt nehmen Q-Zacken im natürlichen Verlauf an Größe zu, während die R-Zacken-Amplitude kleiner wird. Letztere entwickelns sich schließlich zu ausgeprägten „Qr-Wellen“. Erfasste man diese Wellen daher in ihrer „Übergangsphase“, würde dies einen sich entwickelnden ST-Hebungsinfarkt implizieren. Befinden sich die hier sichtbaren Wellen noch im Prozess der Herausbildung, oder ist dies ihr endgültiger Zustand? Diese Frage lässt sich allein auf Basis dieses einzelnen EKG schwer beantworten. Vorsicht:Während bei Vorderwandaneurysmen fast immer QS-Zacken oder winzige R-Zacken vorliegen, gefolgt von einer S-Zacke (rS-Welle), vorliegen, können Hinterwandaneurysmen QR-Wellen (und natürlich Qr-Wellen) zeigen.
  1. Bei zurückliegendem Herzinfarkt mit Aneurysma zeigt sich eine moderate ST-Hebung, wie hier zu sehen ist. Wir sehen keine übermäßigen ST-Hebungen („Grabsteine“), die einen akuten ST-Hebungsinfarkt annehmen lassen, allerdings kann sich ein akuter ST-Hebungsinfarkt natürlich ebenso mit mäßiger ST-Hebung manifestieren.
  1. Auch wenn es nicht immer vorhanden ist, stellt ein früheres EKG die wahrscheinlich hilfreichste Information in diesen Fällen dar. Ohne früheres EKG ist die Diagnose oft schwierig, und man muss sich auf andere klinische Daten verlassen – serielle EKGs, Troponinwerte, persistierender Brustschmerz, etc.
  1. Die meisten, aber nicht alle per EKG sichtbaren „Aneurysma-Morphologien“ hängen mit einem tatsächlich im Echokardiogramm nachweisbaren Aneurysma (siehe dieser Fall einer Echokardiografie am Krankenbett) zusammen. Eine Echokardiografie am Krankenbett, die eine dyskinetische Hinterwand zeigt, kann in diesem Szenario ebenfalls hilfreich sein, dies war hier allerdings nicht der Fall. Die Kardiografie am Krankenbett zeigte tatsächlich Hinterwandbewegungsstörungen, doch dies ist für die Differenzierung im vorliegenden Fall nicht hilfreich.
  1. Letztendlich kann ein Myokardinfarkt von längerer Dauer (subakuter MI) einem LV-Aneurysma gleichen. Hier der Fall eines Patienten von Dr. Smith mit Myokardinfarkt in der Vorgeschichte, der über eine Dauer von 12 Stunden Brustschmerz zeigte:
 12.hours.of.chest.pain.mimics.inferior.LVA
In den inferioren Ableitungen sind QR-Wellen sowie eine spiegelbildliche ST-Senkung in aVL zu sehen.
Man beachte, dass keine der Ableitungen eine ST-Hebung von 1 mm zeigt.
Hier wurde schließlich ein subakuter inferolateraler ST-Hebungsinfarkt diagnostiziert.
Eine umgehende Angiografie zeigte eine akute Okklusion der rechten Koronararterie zu 100 % und des Ramus circumflexus zu 99 % (zwei „culprit lesions“). Der Troponin-I-Höchstwert betrug 197 ng/ml (großer MI).

 

Zurück zu unserem Fall:

Hat diese Patientin also einen ST-Hebungsinfarkt? Ist dies ein Fall für das Katheterlabor?

Ein schwieriger Fall. Und ich muss sagen, dass ich ohne das Vorliegen früherer EKGs und mit Hinblick auf den aktiven/persistierenden Brustschmerz und den positiven Troponinwert die Patientin höchstwahrscheinlich in das Katheterlabor verlegt hätte. In diesem speziellen Fall jedoch förderte eine Durchsicht der Patientenakte das folgende EKG zutage, das von einer Aufnahme der Patientin ins Krankenhaus 3 Wochen zuvor stammte:

2- Figure
Beim Vergleich der beiden EKGs zeigt sich, dass ihr aktuelles EKG weitgehend unverändert ist.

Daher scheinen die Veränderungen in den inferioren Ableitungen auf „persistierende ST-Hebung“ hinzuweisen, typischerweise die Folge eines nicht reperfundierten transmuralen Infarktes. Heutzutage kommen solche Fälle viel seltener vor als früher.

Warum zeigt diese Patientin diese persistierende ST-Hebung bzw. diese Aneurysma-Morphologie?

Eine weitere Überprüfung der Akte ergab interessanterweise, dass die Patientin 3 Wochen zuvor wegen eines hiermit in keinem Zusammenhang stehenden chirurgischen Eingriffs auf dieser Station aufgenommen wurde. Sie klagte in jener Nacht über Übelkeit, und die folgenden 3 EKGs wurden innerhalb eines Zeitraums von 10 Minuten erstellt:

3-Figure

Nur 2 Minuten später:

4-Figure

Weitere 8 Minuten später:

 5-Figure
Man sieht deutlich einen erheblichen inferioren ST-Hebungsinfarkt mit markanter ST-Hebung in II, III, und AVF sowie eine signifikante Senkung in I und AVL. Wir sehen ein Anwachsen der Hebungen, Verschlimmerung der reziproken Veränderung sowie eine Zunahme der posterioren Beteiligung (rechtspräkordiale R-Zacken mit ST-Hebung).

Es gab kaum Aufzeichnungen rund um diese EKGs. Es scheint, als ob die Patientin keinen Brustschmerz zeigte, daher wurde auf diese EKGs leider nicht entsprechend reagiert. Bei der Morgenvisite am nächsten Tag wurden die EKGs bemerkt und bei der Patientin ein Herzkatheter eingesetzt (über 18 Stunden später!). Es wurde eine vollständige Okklusion der medialen RCA (culprit lesion) festgestellt, die sich auf Ramus marginalis dexter, Ramus interventricularis posterior und Ramus posterolateralis dexter auswirkten (was die posteriore Beteiligung erklärt). Sie erhielt eine PCI mit 2 drug-eluting stents, die an der Gefäßwand aufliegen. Sie hatte stark erhöhte Troponinwerte. Eine Echokardiografie in der Rekonvaleszenz ergab eine LVEF von 30-35 %, Vorderwandakinesie und persistierende schwere Hinterwandhypokinesie.

Werfen wir einen Blick auf das EKG, das bei der Morgenvisite erstellt wurde (noch vor Platzierung des Katheters):

6-Figure
Im Vergleich mit den in der Nacht zuvor erstellten EKGs, die auf einen ST-Hebungsinfarkt hinweisen, können wir erkennen, dass das Ausmaß der inferioren ST-Hebung sich verringert hat, ebenso die Amplitude der R-Zacken. Diese Zacken sind immer noch im Prozess des Übergangs zu ihrem ausgereiften und endgültigen Stadium als Qr-Wellen. Diese Merkmale sind indikativ für einen entstehenden Infarkt und abnehmende Myokardfunktion. Man beachte die Entwicklung der T-Wellen von großen, hohen, hyperaktiven T-Wellen zu kleineren, biphasischen/invertierten T-Wellen.

Interessant ist auch die erhöhte Amplitude der R-Zacke in Ableitung V2. Dies ist die Folge eines Hinterwandinfarktes. Die Amplitude der R-Zacke in V2 ist die Summe der anterioren Kräfte der Vorderwand minus die Kräfte der Hinterwand, die gegen diese Ableitung gerichtet sind. Da nun keine gegenläufigen Kräfte herrschen, sind die anterioren Kräfte noch dominanter, was zu einer erhöhten Amplitude der R-Zacke in V2 führt. Was wir sehen, sind im Wesentlichen „posteriore Q-Zacken“.

Um die elektrokardiografisch sichtbare Entwicklung dieses Infarktes besser einzuschätzen, sehen wir den chronologischen Verlauf in den inferioren Ableitungen an:

7-Figure
Man beachte die Entwicklung der R-Zacken beim Übergang zu ihrem endgültigen/ausgereiften Status als QR-Wellen. Man beachte auch die Entwicklung der T-Wellen.

Zurück zur aktuellen Visite bei der Patientin (3 Wochen nach der ersten Visite). Sie wurde wieder in das Krankenhaus aufgenommen und es wurden keine weiteren Entwicklungen im EKG festgestellt. Sie wurde auf Maximalmedikation eingestellt, ihre Schmerzen ließen nach, und ihr Troponin-Höchstwert war nur leicht erhöht (NSTEMI). Nach einem kurzen Aufenthalt wurde sie entlassen.

Fazit:

  1. Die Differenzierung zwischen akutem/subakutem ST-Hebungsinfarkt und LV-Aneurysma kann sich als schwierig erweisen. Eine Unterscheidung anhand der inferioren Ableitungen kann viel schwieriger sein als anhand der anterioren Ableitungen. (Dies beruht auf der Tatsache, dass in den inferioren Ableitungen die Entwicklung der QR-Wellen als den anterioren QS-Zacken entgegengesetzt zu sehen ist). Sehen Sie sich die Amplitude der R-Welle sowie Größe und Morphologie der T-Welle an (insbesondere hyperakute, vertikale T-Wellen, die auf akuten ST-Hebungsinfarkt hinweisen) sowie den Grad der ST-Hebung (der bei Aneurysma-Morphologie nur mäßig sein sollte). Führen Sie eine Echokardiografie sowie serielle EKGs durch, und vergleichen Sie, wenn möglich, immer mit einem früheren EKG.
  1. Falls trotz dieser Maßnahmen die Diagnose immer noch nicht eindeutig ist: Gehen Sie auf Nummer sicher und setzen Sie einen Herzkatheter!
  1. Vorsicht bei ACS mit atypischen Symptomen, einschließlich Abwesenheit von Brustschmerz. Dies gilt insbesondere für Frauen, Diabetiker und ältere Menschen. Wie Sie bei diesem Fall gesehen haben, kann ein Patient einen schweren Herzinfarkt erleiden und dennoch keinerlei Brustschmerz zeigen!

Der Originalartikel wurde veröffentlicht auf http://hqmeded-ecg.blogspot.nl/2015/11/chest-pain-st-elevation-and-elevated.html

Dr. Stephen Smith ist Professor für Notfallmedizin. Sein persönlicher Blog ist hier zu finden: Dr. Smith’s ECG Blog.