Was tun bei einem CHA2DS2-VASc- Score von 1?

Von Dr. David Mann

Mit Vorhofflimmern ist nicht zu spaßen; es handelt sich dabei um eine komplizierte, oft zermürbende Erkrankung, sowohl für Patienten wie für Ärzte. Eine Frage, die sich unweigerlich und frühzeitig stellt, ist jene nach der prophylaktischen Antikoagulation zur Prävention von Schlaganfällen. Wer sollte Antikoagulantien erhalten? Welches Antikoagulans? Wie sollte mit Antikoagulation während operativer Eingriffe oder vor und nach Ablation oder Kardioversion verfahren werden? Wie sollte die Antikoagulation überwacht werden? Welche Modifikationen sind bei Patienten mit Nieren- oder Lebererkrankungen nötig? Sollte eine Antikoagulation auch bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko erfolgen? Das Thema Antikoagulation bei Vorhofflimmern ist für sich genommen überwältigend! Zu viel für einen kurzen Blogartikel. Daher grenze ich das Thema weiter ein. Es geht um Risiko-Scores zur Entscheidung, bei welchen Patienten eine Antikoagulationstherapie in Frage kommt.

chadsvasc

Risiko-Scores bei Vorhofflimmern wurden entwickelt, um das Schlaganfallrisiko bei Patientengruppen mit Vorhofflimmern „ohne Herzklappenfehler“ einzuschätzen. Dies habe ich in Anführungszeichen gesetzt, denn „ohne Herzklappenfehler“ ist für diesen Zweck nicht gut definiert. Diese Risiko-Scores treffen gewiss nicht auf Patienten mit Herzklappenersatz oder rheumatisch bedingter Mitralklappenstenose zu, aber abgesehen davon scheinen diese Scores in der Praxis sogar bei Patienten mit leichten bis mittelschweren nicht-rheumatisch bedingten Herzklappenerkrankungen zum Einsatz zu kommen. Der CHADS2-Score ist sehr simpel, ist aber in den vergangenen Jahren aus der Mode gekommen. Er ist ein zu grober Maßstab; bei Menschen mit niedrigen Scores kann dennoch ein signifikantes Schlaganfallrisiko vorliegen. Er wurde in den kürzlich veröffentlichten Leitlinien durch den CHA2DS2-VASc-Score ersetzt. Dieser macht es schwerer, einen Score von 0 zu erhalten und einer Antikoagulation zu entgehen. Mit Bezug auf diesen Risiko-Score empfahlen sowohl 2012 die European Society of Cardiology (ESC) als auch 2014 die American Heart Association/American College of Cardiology/Heart Rhythm Society (AHA/ACC/HRS) in ihren Leitlinien zum Vorhofflimmern keine Antikoagulation bei einem Score von 0 und vollständige Antikoagulation bei einem Score von 2 oder höher. Es bestehen Zweifel, wenn nicht sogar Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Entscheidung bei einem CHA2DS2-VASc-Score 1 lauten soll. Antikoagulation – ja oder nein? Die Vorgängerversion der ESC-Leitlinie tendierte deutlich zur Antikoagulation bei einem CHA2DS2-VASc-Score von 1. Die neuere Version ist zweideutiger. Wie man bei einem Score von 1 vorgeht, ist insbesondere von Bedeutung, wenn man sich bewusst macht, dass das weibliche Geschlecht an sich gemäß CHA2DS2-VASc einen Risikofaktor mit dem Punktwert 1 darstellt. Ja, die Hälfte der Menschen auf diesem Planeten werden mit einem CHA2DS2-VASc-Score von 1 geboren und müssten nach den alten Leitlinien allein aufgrund ihres Geschlechts eine Antikoagulation erhalten.

Eine schwedische Studie von 2012 befasste sich mit diesem Problem. Die Studie kam z zu der Schlussfolgerung, dass zwar das weibliche Geschlecht bei Vorhofflimmern einen Risikofaktor für Schlaganfälle darstellt, wenn weitere Risikofaktoren vorliegen, es jedoch für sich genommen bei Frauen unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren kein signifikantes Schlaganfallrisiko mit sich bringt. Daraus lässt sich folgern, dass ein CHA2DS2-VASc-Score von 1, der sich allein wegen des weiblichen Geschlechts ergibt, keine Antikoagulation rechtfertigt.

Die Ergebnisse dieser Studie wurden direkt in die ESC-Leitlinen von 2012 aufgenommen (man beachte, dass Dr. Gregory Lip Mitverfasser beider Leitlinien sowie der schwedischen Studie ist). Die Empfehlung der ESC lautet daher: Vollständige Antikoagulation (Aspirin und Aspirin + Clopidogrel werden in die Zweitlinientherapie verbannt) bei einem CHA2DS2-VASc-Score von 1 oder höher, nach dem Ausschließen von Frauen ohne weitere Risikofaktoren und unter 65 Jahre, die (ebenso wie Männer mit denselben Kriterien) keine Antikoagulation benötigen.

Im Fall, dass der CHA2DS2-VASc-Score genau 1 beträgt, sind die AHA/ACC/HRS-Leitlinien von 2014 zu Vorhofflimmern noch vager als die Leitlinien der ESC. Bei der Ausgabe von Kardiologie-Leitlinien wird von einer gewissen quantifizierten Mehrdeutigkeit Gebrauch gemacht. Die Empfehlungen werden klassifiziert in I (sollte man tun), IIa (ist vernünftig), IIb (kann man in Betracht ziehen) oder III (nicht tun). Unabhängig davon werden außerdem 3 Zuverlässigkeitsstufen verwendet: A (von mehreren randomisierten klinischen Studien abgeleitete Daten), B (von einer randomisierten klinischen Studie abgeleitete Daten) oder C („Expertenmeinung“). Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass bei einem CHA2DS2-VASc-Score von 2 oder höher eine Evidenzempfehlung der Klasse I, Stufe A für eine Antikoagulation gegeben wird, und bei einem Score von 0 eine Evidenzempfehlung der Klasse IIa, Stufe B für eine Nicht-Antikoagulation erfolgt. Bei einem CHA2DS2-VASc-Score von 1 herrscht völlige Unklarheit, wie folgende Empfehlung der Klasse IIb erkennen lässt:

Bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern und einem CHA2DS2-VASc-Score von 1 ist keine antithrombotische Therapie oder Behandlung mit oralen Antikoagulantien oder Aspirin in Betracht zu ziehen. (Evidenzstufe: C

Bezüglich der möglichen Ausschließung von Frauen mit einem CHA2DS2-VASc-Score von 1 besagen die Leitlinien (wieder mehrdeutig):

„In einer Studie mit schwedischen Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern wurde erneut bei Frauen im Vergleich zu Männern ein mäßig erhöhtes Schlaganfallrisiko festgestellt; allerdings zeigten Frauen unter 65 Jahre mit Vorhofflimmern und ohne weitere Risikofaktoren ein geringes Schlaganfallrisiko, woraus sich folgern ließ, dass eine Antikoagulation nicht erforderlich war. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Bewertung des Risikos von durch Vorhofflimmern bedingter Thrombose ist jedoch erforderlich.“

All dies stellt ein Problem für Ärzte, Patienten (insbesondere weibliche) und ebenso für programmierende Ärzte dar, die Apps wie EP Mobile entwickeln. Diese App berechnet die Risiko-Scores und versucht, Empfehlungen zu geben. Derzeit verwendet EP Mobile schlichtweg noch die alten Empfehlungen, wie es bei den meisten von mir getesteten webbasierten Online-Risikoscore-Rechnern der Fall ist (z.B. hier und hier). Ein Anwender von EP Mobile wies mich darauf hin, dass die Empfehlungen der App veraltet seien. Eine derartige Komplexität in einem winzigen Dialogfenster auf einem Smartphone-Display unterzubringen, ist eine echte Herausforderung. Nichtsdestotrotz werde ich die App regelmäßig aktualisieren, damit die Antikoagulationsempfehlungen genauer den aktuellen Leitlinien entsprechen – zumindest, bis die nächsten Leitlinien veröffentlicht werden.

Der Originalartikel wurde veröffentlicht auf http://www.epstudiossoftware.com/?p=1884

Dr. David Mann ist pensionierter Kardioelektrophysiologe. Sein persönlicher Blog ist zu finden auf EP Studios.