Erhöhen Protonenpumpenhemmer das Herzinfarktrisiko?

Seit einigen Jahren gibt es Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen von häufig verschriebenen Antazida namens Protonenpumpenhemmern (PPI) auf das Herz. PPI werden zur Behandlung der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD), bei Magengeschwüren und anderen säurebedingten Erkrankungen eingesetzt. Zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln der PPI-Klasse zählen Omeprazol, Esomeprazol, Pantoprazol, Lansoprazol und Dexlansoprazol.

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Insbesondere besteht eine mögliche Wechselwirkung zwischen bestimmten Protonenpumpenhemmern und Clopidogrel, wobei im Endeffekt die Wirksamkeit von Clopidogrel bei gleichzeitiger Gabe von PPI möglicherweise herabgesetzt ist. Clopidogrel ist ein Thrombozytenaggregationshemmer (TAH), der oft bei Patienten mit Stent-Implantat verabreicht wird, und wird zufällig von denselben Leberenzymen in seine aktive Form metabolisiert, die die meisten PPI metabolisieren. Die Wirkstoffe konkurrieren um das Enzym, was die Wirkung von Clopidogrel herabsetzen kann. Theoretisch kann dies unerwünschte Auswirkungen auf das Herz bei Patienten mit Stent haben. Dieser in-vitro-Effekt hat sich in einer kürzlichen randomisierten kontrollierten Studie (Bhatt DL et al.) als klinisch nicht relevant erwiesen, allerdings sorgt die Wechselwirkung zwischen PPI und Plavix immer noch für Kontroversen, und nähere Details würden den Rahmen dieses Artikels sprengen.
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Ich erwähne die PPI-Clopidogrel-Problematik, da sie für das Verständnis einer neuen Studie von Shah et al., die diesen Monat im Fachblatt „PLoS ONE“ veröffentlicht wurde, von Bedeutung ist. In dieser Studie wurde die Technik des sogenannten Data-Mining eingesetzt, um über Jahre gesammelte Daten aus elektronischen Gesundheitsakten auszulesen. In der Primäranalyse der Studie wurden Daten von rund 70.000 Patienten extrahiert. Beim Data-Mining (eine genauere Beschreibung durch die Forscher ist über den Link am Ende des Artikels abrufbar) wird kurz gesagt bestimmten festgelegten Variablen (Patienten, die PPI einnehmen) und einem Ergebnis (Herzinfarkt) eine bestimmte mathematische Funktion zugewiesen, um Zusammenhänge zwischen beiden Ereignissen zu erkennen.

Die Autoren schlussfolgern, dass eine Assoziation zwischen der Gabe von PPI und dem Auftreten eines Herzinfarkts besteht, mit einer Odds Ratio von 1,16 (kein besonders starker Effekt; etwa 4000 Patienten müssten PPI einnehmen, damit es zu einem Herzinfarkt kommt). Dieser Effekt ist unabhängig von der Einnahme von Clopidogrel und wurde nicht bei der Anwendung schwächerer Antazida festgestellt (H2‑Rezeptorenblocker, z. B. Zantac, Pepcid). Falls zutreffend, weist dies darauf hin, dass Protonenpumpenhemmer über einen unabhängigen ursächlichen Mechanismus zur Entstehung der koronaren Herzkrankheit verfügen. Den Autoren zufolge kommt eine Hemmung der endothelialen Stickstoffmonoxid-Synthase (eNOS) als plausibelster Mechanismus in Frage. Das Enzym eNOS produziert Stickstoffmonoxid, eine gefäßerweiternde Substanz, die sowohl lokal produziert wird als auch lokal agiert, um die Durchblutung des Gewebes zu steigern. Behindern Protonenpumpenhemmer die Funktion von eNOS, kann dies zur Beeinträchtigung der Durchblutung der Herzmuskelzellen und in der Folge zum Herzinfarkt führen.

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Diese Schlussfolgerungen sind zunächst beunruhigend. Doch der mündige Wissenschaftler liest eine Studie und versucht, sie auseinanderzunehmen, um festzustellen, ob sie einer Prüfung standhält. Meiner Meinung nach ist das bei dieser Studie nicht der Fall. Die gesamte Studie basiert auf Daten, die elektronischen Patientenakten entnommen wurden, welche wiederum auf manuellen Benutzereingaben in Patientenakten basieren. Wer schon einmal mit elektronischen Patientenakten gearbeitet hat, weiß, dass viele der vom System übermittelten Daten ungenau, falsch oder veraltet sind. Manchmal werden suboptimale Patientendaten ins System eingegeben, sei es, um Zeit zu sparen, weil die Visite anstand und der für die Dateneingabe zuständige Praktikant Angst hatte, zu spät zu kommen, oder weil der Patient entlassen wurde und sein Fahrer ungeduldig auf die Erledigung des „Papierkrams“ wartete, oder aus vielen anderen Gründen. Manchmal wurden Daten in die Patientenakte eingegeben, die an einem Tag als gesichert galten und am nächsten Tag nach Folgetests widerlegt wurden. Ein retrospektiver Einblick in die Akten ist daher immer begrenzt durch das, was tatsächlich in die Akte aufgenommen wurde. Bei den meisten guten retrospektiven Studien extrahieren richtige Menschen (für gewöhnlich Studenten) von Hand die Daten aus den Akten, um das Signal vom Rauschen zu unterscheiden.

In dieser Studie wurde von einer computergestützten Datenextraktionsmethode Gebrauch gemacht, um etwa eine Billion Datensegmente von 1,8 Millionen Patientenkontakten zu analysieren. Die Verfasser der Studie stellen folgende These auf: Wurde einem Patienten PPI verschrieben und taucht der Terminus myocardial infarction (Herzinfarkt) in der Akte zeitlich nach Gabe von PPI auf, dann gilt diese Abfolge von Ereignissen als PPI-assoziierter Herzinfarkt. Wie kann man signifikante Schlüsse aus computergenerierten Assoziationen von Termini ziehen, die in die Patientenakte eingegeben werden und wahr oder falsch sein können? Hier muss ich an die Phrase „garbage in, garbage out” denken…

Die Autoren behaupten, sie hätten kontrolliert auf „Alter, Geschlecht, Rasse, Beobachtungsdauer, und…die Anzahl der eigenständig erwähnten Arzneimittel- und Erkrankungsbegriffe“ – um damit die immense Komplexität eines Patienten zu ersetzen. Wichtiger ist allerdings, worauf sie nicht kontrolliert haben: Etwa Übergewicht, Ernährung, Raucherstatus, Herzinfarkt in der Vorgeschichte, Einnahme von Aspirin oder nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR), Cholesterinspiegel, Entzündungsmarker, Blutdruck…die Liste lässt sich lange weiterführen. Übergewicht, schlechte Ernährung und Rauchen fördern Sodbrennen und sind der Grund, warum einem bestimmten Patienten möglicherweise PPI verschrieben wurden. Bei den genannten Faktoren handelt es sich ebenfalls um unabhängige Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. NSAR können Magengeschwüre verursachen, die anschließend mit PPI behandelt werden. Die Gabe von NSAR erhöht ebenso das Herzinfarktrisiko. Patienten mit hohem KHK-Risiko wird oft prophylaktisch Aspirin verschrieben. Viele dieser Patienten erhalten gleichzeitig PPI, um das GI-Blutungsrisiko aufgrund von Aspirin und anderen Blutverdünnungsmitteln zu verringern. Wenn die Methoden einer Studie grundlegend mangelhaft sind, beruht alles Weitere auf falschen Prämissen, daher können aus den Ergebnissen schlichtweg keine logischen Schlüsse gezogen werden. Aus Zeitgründen hört der gebildete Leser an diesem Punkt auf, weiterzulesen.

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Dies führt zu Sodbrennen und Herzinfarkt…ob mit PPI oder ohne!

Darüber hinaus lassen sich anhand der aus einer retrospektiven Datenanalysen-Studie gezogenen Schlüsse keine Ursachen erkennen. Man kann sich allenfalls einen vagen Zusammenhang zweier Dinge erhoffen. Prospektive kontrollierte Studien müssen Ursächlichkeiten aufzeigen. Der Autor dieses Blogs schlussfolgert daher (wenn überhaupt), dass Patienten, die Protonenpumpenhemmer einnehmen, oft dieselben Patienten sind, die einen Herzinfarkt erleiden. Da es hier lediglich um Zusammenhänge geht, wäre das Gegenteil ebenso zutreffend: Patienten, die Herzinfarkte haben, haben statistisch gesehen mit höherer Wahrscheinlichkeit PPI eingenommen. Nur sind die besagten Statistiken in dieser Studie äußerst mangelhaft.

Wie lautet das Fazit? Wie immer sollte man zur Behandlung einer echten Erkrankung nur die geringste wirksame Dosis eines Arzneimittels und nur über einen möglichst kurzen Zeitraum einnehmen. Und wohlgemerkt erst, wenn andere geeignete Behandlungsmethoden ausgeschöpft sind. Die Einnahme von Medikamenten sollte keine Alternative zu einer Umstellung von Ernährung und Lebensstil sein. GERD oder Magengeschwüre können, wenn sie nicht behandelt werden, viele schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Speiseröhrenkrebs, Magenkrebs, Blutungen und Perforationen lebenswichtiger Organe nach sich ziehen, ganz zu schweigen davon, dass unbehandelte Symptome wie  Sodbrennen und Schmerzen einen Verlust an Lebensqualität bedeuten. An diesen Tatsachen ändert auch eine mangelhaft durchgeführte Studie nichts. Sollte der mögliche Zusammenhang zwischen PPI und Herzinfarkt weiter erforscht werden? Ja. Doch derzeit gibt es keinen Grund, etwas an der aktuellen Verschreibungspraxis von PPI zu ändern.

Quellen:

Bhatt DL, Cryer BL, Contant CF, Cohen M, et al. Clopidogrel with or without omeprazole in coronary artery disease. N Engl J Med 2010;363:1909-17.

Shah NH, LePendu P, Bauer-Mehren A, Ghebremariam YT, et al. (2015) Proton pump inhibitor usage and the risk of myocardial infarction in the general population. PLoS ONE 10(6): e0124653. doi:10.1371/journal. pone.0124653

Sämtliche Bilder stammen von den Wikimedia-Commons-Autoren Ichund „Heart Attack Grill

Der Originalartikelwurde veröffentlicht auf http://retroflexions.com/evidence-based-gastroenterology/do-proton-pump-inhibitors-cause-heart-attacks/

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Dr. Frederick Gandolfo ist Gastroenterologe. Sein persönlicher Blog ist zu finden auf www.retroflexions.com.